Verletzungsprävention durch ein verbessertes, aufblasbares Kopfstützensystem

Inhaltsverzeichnis:

1. Ausgangslage

Selbst in unfalltypischen frontalen- und heckseitigen Kollisionen bei auch nur geringer Stoßenergie nimmt die Anzahl der ansonsten glimpflich unverletzten Autoinsassen, die noch als spätfolge dieser Unfälle an Schleudertraumen im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) leiden, überproportional zu.
Es gehört zur Phänomenologie des Verletzungsmusters "HWS-Trauma", daß es nicht unmittelbar nach dem Unfallereignis auftritt und erkannt werden muß. Aus medizinischer Sicht handelt es sich um eine innere Weichteilverletzung mit Schädigung der in der HWS verlaufenden Nervenbahnen. Nicht immer sind HWS-Traumen auch diagnostisch nachzuweisen. In zahlreichen Fachkonferenzen wurden die zugrunde liegenden Verletzungsmechanismen innerhalb der HWS erörtert und vertieft. Die Sachversicherer konstatieren einen zunehmend hohen Regulierungsaufwand für Unfallfolgen dieses Verletzungsmusters. Insbesondere die spezifisch lange Heildauer von HWS-Traumen wirkt kostentreibend. [1,2]
Bislang offen ist die Frage, ob HWS-spezifische Verletzungsgefahren bei selbst energiearmen Unfallstößen möglicherweise typisch für moderne europäische Kleinwagen mit engen Innenraumverhältnissen sein können. Unter diesen Bedingungen kommt der weiteren Entwicklung optimierter, leistungsfähigerer Rückhaltesysteme besondere Bedeutung zu.

2. Zielsetzung

Ein möglicher Schritt in diese Richtung kann in dem hier vorgestellten Konzept eines sicherheitstechnisch verbesserten Kopfstützensystems gesehen werden.
Der durchgeführten Untersuchung lag folgender methodischer Ansatz zugrunde:
  • Zunächst war die Fachliteratur daraufhin zu analysieren, welche Anstoßkonstellationen front- und heckseitig in erster Näherung quasi verletzungsfrei bzw. verletzungsarm für die betreffenden Insassen verliefen. Das Rückhaltesystem mußte bestimmungsgemäß aktiviert und dessen primäre Schutzwirkung mußte wirksam geworden sein.
  • Die eigentliche Zielgruppe lag in derjenigen unfallbeteiligten Personengruppe, die lediglich nur sekundär unter HWS-Traumen zu leiden hatte. Aus der unumstrittenen Wechselbeziehung von Verletzungsschwere und kollisionstypischer Geschwindigkeitsänderung Δv im Unfallstoß ging als Teilergebnis hervor, daß HWS-Belastungen durch Kopfstützensysteme methodisch durch angepaßte Schlittenaufprallversuche mit instrumentierten Dummies untersucht und gemessen werden können. [3]
Bild 1: Versuchsanordung für Heckaufprall
Bild 1: Versuchsanordung für Heckaufprall

Bild 2: Versuchsanordung für Schrägaufprall
Bild 2: Versuchsanordung für Schrägaufprall

3. Untersuchungsmethode

Mit einer teilausgestatteten und verstärkten Rohkarosserie eines gängigen Pkw-Typs, montierbar in verschiedenen seitlichen Stoßrichtungslagen auf einem Rollwagen wurden mehrere Reihen von Aufprallversuchen durchgeführt. Die Beifahrer und die hintere äußere Sitzposition waren jeweils mit einem teilinstrumentierten anthropometrischen Testdummy Hybrid 3 besetzt. Der Sicherheitsgurt war angelegt und die Kopfstütze in den Standardtests bestimmungsgemäß eingestellt.

3.1 Basistest

In der ersten Folge von Schlittenaufprallversuchen, mit einer aufprallverzögerung im Bereich von 3,1g - 7,6g aus Geschwindigkeiten von 13 bis 23 km/h den Basistests, wurde eine Bestandsaufnahme der vorkommenden HWS-Belastungen erhoben.
Die kinetischen Belastungsverhältnisse wurden durch Sensoren im Kopf und in der HWS gemessen. Die Kinematik der Körpereigenbewegung der Dummies wurde mit Hochgeschwindigkeitsfilmen aufgenommen und analysiert.

Bild 3:Anordung für Heckaufprall
Bild 3:Kopfbewegungsbahnen, Fahrer (oben) und Beifahrer
Bild 4: Endposition Beifahrer (links) und Mitfahrerl
Bild 4: Endposition Beifahrer (links) und Mitfahrer

In Annäherung einer unfalltypischen Situation wurde insbesondere die einem Frontalaufprall nachfolgende Rückprallbewegung der Testpuppen simuliert und untersucht. Aber auch der direkt einwirkende Heckaufprall wurde in den Basistests dargestellt.
Als weiterer Versuchsparameter wurden auch falsch eingestellte und fehlende Kopfstützen realisiert und die Folgewirkung meßtechnisch erfaßt und analysiert.
Insbesondere in den, auf die Fahrzeuglängsrichtung bezogen, schräg einwirkenden Stoßrichtungen ließen die Basisversuche Schwächen im Kopfstützensystem und resultierend vermeidbare Zusatzbelastungen im Bereich der HWS der Dummies erkennen. Als Schwachpunkte wurden erkannt:
  • Die Flächenbreite des Kopfstützenkörpers beläuft sich auf nicht mehr als etwa 25 cm. Bei schräger Aufprallrichtung verfehlt der Kopf die Kopfstützenmitte und gleitet seitwärts daran ab. In der Folge kommt es zu Zusatzbelastungen der HWS durch rückwärts drehende Überstreckung mit entsprechend hohen und verletzungsverursachenden Biegemomenten und Kräften. Das Abgleiten am Kopfstützenkörper kann je nach einwirkender Stoßrichtung nach innen oder außen hin gerichtet sein. Ein Abgleiten zum Seitenfenster hin kann zwar die HWS-Überdehnung verringern, geht aber einher mit zusätzlichen Kopf-Anprallbelastungen. Fehlende und auch zu niedrig eingestellte Kopfstützen führten zu deutlich überhöhten Zusatzbelastungen der HWS.
  • Eine weitere Erkenntnis aus den Basisversuchen liegt darin, daß bei unfalltypischen Stoßvorgängen der angeschnallte Dummy selbst bei verhältnismäßig geringer Stoßenergie auch in vertikaler Richtung hohe Eigenbewegungen vollzieht und Überstreckungs- und Anstoßbelastungen unterliegt. Auch die vertikale Baugröße von Kopfstützenkörpern wurde als unzureichend in den Basisversuchen erkannt und bewertet. Das Vorkommen erheblicher HWS-Überstreckungen und Kopfkontakt bilden dafür den Bewertungshintergrund. [4]
    Zeitgleich mit den Basisversuchen fanden Aufpralltests mit modernen Kleinwagen statt. Trotz bestimmungsgemäßen Gebrauchs der modernen Sicherungssysteme (Airbag, Gurtstrammer), war zu beobachten, daß die eingesetzten Testdummies im Fahrzeuginnenraum erheblichen eigen-dynamischen Bewegungen ausgesetzt sind. Die konstruktive hohe Steifigkeit moderner Kleinwagen ist dafür einflußgebend.
  • Zusammenfassend sind konventionelle Kopfstützen in ihrer flächigen Breitenausdehnung zu schmal und in ihrem Höhenmaß zu klein, wenn man realistisch auch schräge Aufprallwinkel zugrunde legen muß.
Die passive Kopfstütze ist einerseits ein permanentes Sichthemmnis, andererseits ist sie in ihrer Flächengröße zu schmal und zu klein um auch HWS-Belastungen nachhaltig zu mindern oder gar zu vermeiden.
Bild 5: Reduzierte Kopfstützenlose
Bild 5: Reduzierte Kopfstützenlose

4. Konzept Aktive Kopfstütze

Auf der Grundlage von 7 Basisversuchen und weiteren 5 Entwicklungsversuchen zum Einfluß des Abstandes zwischen Hinterkopf und Kopfstütze, wurde ein Konzept einer aktiven, großflächigen Kopfstütze entworfen. Zum versuchstechnischen Gebrauch in weiteren Schlittenaufpralltests wurden flache, aufblasbare Form-Luftkissen entworfen und hergestellt. Deren Flächengröße und Formgestalt unterteilen den Innenraum von der Seitenfensterfläche bis zur Dachfläche hinauf und bewirken je Sitzposition zusammengehend eine durchgehende Querspantfläche innerhalb des Insassenraumes.
Der auf der Sitzlehne befestigte konventionelle Kopfstützenkörper blieb erhalten.
Bild 6: Schema Aktive Kopfstütze, Draufsicht (unten)
Bild 6: Schema Aktive Kopfstütze, Draufsicht (unten)
Bild 7: Fahrer mit Muster Aktive Kopfstütze
Bild 7: Fahrer mit Muster Aktive Kopfstütze
Diesem Konzept liegt zu Grunde, daß Kopfstützen substantiell allenfalls bei einem Unfall vorhanden sein müssen und in ihrer Schutzwirkung benötigt werden. Ansonsten aber engen sie die Sichtverhältnisse eher ein und erscheinen entbehrlich.
Der Erwartung, daß mit vergrößerten Kopfstützenflächen Belastungsminderungen in allen Körper-Stoßrichtungen erzielt werden können, wurde in weiteren Validierungsversuchen nachgegangen. Schlittenaufpralltests unter sonst gleichen Bedingungen wie zuvor erwiesen, daß mit der aktiven Kopfstütze der direkte Kopfaufprall auf harte Strukturen, wie etwa an Pfosten und Seitenflächen, vermieden werden können. Die rückwärts gerichtete Überstreckung im HSW-Bereich der Meßdummies (Extension) konnte kinematisch begrenzt und kinetisch anhand der gemessenen Beugungsmomente nachhaltig vermindert werden.
Im direkten Vergleich der hoch verletzungsrelevanten HWS-Belastungen (Extension) aus den Basis- und Entwicklungsversuchen mit den Ergebnisse der Validierungsversuche unter Wirkung der aktiven, großflächigen Kopfstütze läßt sich im Mittel aller Anstoßrichtungen und Verzögerungsstufen eine Belastungsminderung um ca. 63% errechnen, die als "Sicherheitsgewinn" gewertet werden kann.
Bild 8: Sekundäraufprall nach Frontalkollision
Bild 8: Sekundäraufprall nach Frontalkollision
Bild 9: Validierungsversuch mit Aktiver Kopfstütze
Bild 9: Validierungsversuch mit Aktiver Kopfstütze
Die vorwärtsgerichtete, aufgeprägte Beugung der HWS (Flexion) -weniger verletzungsrelevant- konnte bilanzierend um etwa 80% verringert werden.
Nach [5] beläuft sich dieser Sicherheitszuwachs nach in der Skala der körperteilbezogenen Verletzungs Schweregrade auf ca. eine Stufe. Das bedeutet u. a. auch, daß Leichtverletzte zu Unverletzten werden und Schleudertraumen, auch zeitverzögert nicht mehr in Erscheinung treten.
Bild 10: 63% Reduktion der HWS-Extensionbelastung
Bild 10: 63% Reduktion der HWS-Extensionbelastung

5. Zusammenfassung, Schlußfolgerung und Ausblick

Im Projektansatz schon war die Grunderkenntnis enthalten, daß die Kopfstütze als Teil des Gesamtsystems Rückhaltesystem aufzufassen ist. Die Zielvorgabe nach möglichen Sicherheitsverbesserungen am Teilsystem Kopfstütze waren schlüssigerweise nicht auf lebensbedrohliche und schwere Verletzungsmuster gerichtet. Eine Kopfstütze kann verletzungspräventiv nicht besser wirken als der Sitz, mit dem sie fest verbunden ist. Die klare Zielrichtung galt vielmehr einem minderen Schwerebereich körperlicher Verletzungen, nämlich den schleudertraumatischen Belastungen der Halswirbelsäule (HWS) für unfallbeteiligte Fahrzeuginsassen.
Die Phänomenologie dieser Traumen wird charakterisiert vom Erschwernis der diagnostischen Nachweisbarkeit und der unverhältnismäßig langen Heildauer. Schleudertraumen treten aber auch nach Frontalkollisionen auf, treten jedoch weniger hervor und werden vielmehr von schweren anderen Verletzungen überdeckt. [6]
In insgesamt 16 Schlittenaufprallversuchen mit je zwei instrumentierten anthropometrischen Meßpuppen 50 Percentil Mann in verschiedenen Sitzpositionen bei heck- und frontalseitigen, geraden und schiefwinkeligen Anstoßrichtungen wurden experimentell und analytisch die Möglichkeiten sicherheitstechnisch verbesserter Kopfstützensysteme untersucht und Lösungsansätze dazu erprobt. Eine Basis-Versuchsreihe diente der Ermittlung des Wissenstandes. In einer weiteren Reihe von Entwicklungsversuchen wurden idealisierte Belastungsbedingungen unterlegt. Schließlich wurde als Ergebnis der analytischen Arbeit das Konzept einer aktiven Kopfstütze, die sich unfallsituationsgerecht entwickelt und bereitstellt, entworfen und provisorisch realisiert.
Bild 11: Seitenansicht Sitz mit Aktiver Kopfstütze
Bild 11: Seitenansicht Sitz mit Aktiver Kopfstütze
Bild 12: Behelfsmäßige Befestigung der Aktive Kopfstütze
Bild 12: Behelfsmäßige Befestigung der Aktive Kopfstütze
Die experimentelle Erprobung dieses bislang nur theoretischen Lösungsansatzes "aktive Kopfstütze" zeigte ein beträchtliches Reduktionspotential für die wichtigsten verletzungsrelevanten Belastungsmuster in der Halswirbelsäule in der Größenordnung von bis zu 63 % Extension und sogar 86 % für Flexion.
Das Konzept der aktiven Kopfstütze beinhaltet die seitwärts und nach oben gerichtete Erweiterung der Kopf-Abstützflächen in jeder Sitzposition. In Verbindung mit dem Nachbarsitz ergibt sich eine geschlossene, den Innenraum quer überspannende Abstützfläche. Auf dieser wird der Kopf des zurückprallenden Körpers unter jeder unfallbedingt vorstellbaren Auftrefflage und Richtung verletzungspräventiv aufgefangen. So wird mittelbar die HWS-Überstreckung vermindert oder vermieden. Gegenüber anderen Konzepten aktivierter Kopfstützen liegt die innovative Vorteilseignung im Aufbau einer den gesamten Innenraum in Querrichtung überspannenden Stützfläche bis nach oben zum Innendach hin. Gebrauchs- und Einstellprobleme mit z. B. der Höhenanpassung der Kopfstütze treten in ihrer Bedeutung zurück.
Der Nutzen als Ausdruck vermeidbarer Belastungsschwere oder verringerter Verletzungsrisiken konnte durch Experimente mit Hilfe einer behelfsmäßig gefertigten aktiven Kopfstütze gezeigt werden.
Auf eine Reihe von damit verbundenen Problemen, aber auch auf weitere Entwicklungsmöglichkeiten konnte im Rahmen dieser Untersuchung nicht vollständig eingegangen werden. So etwa muß die zu erwartende Schalldruckbelastung des sich in relativer Ohrnähe entfaltenden Systems bedacht und untersucht werden. Im Falle der anliegenden, kontaktierenden Kopfposition dürften keine Zusatzrisiken entstehen. Das Gaskissensystem sollte in die periphere Formgestalt des Kopfstützenkörpers integriert werden. Mit einer über innere Fangbänder beeinflußten Formgestalt des die Kopfstütze umgebenden Gaskissens kann eine trichterförmige, konvex gekrümmte Gesamtfläche gestaltet werden, mit der Abgleiteffekten zu begegnen ist. Schließlich sind die Stabilität des partiell freistehenden Gaskissens sowie Dämpfungseigenschaften in Zusammenhang mit dem Kissen-Innendruck noch genauer zu untersuchen. Insgesamt also viele Parameter, mit denen die erreichten Schutzvorteile noch gesteigert werden können.
Zusammenfassend und abschließend ist festzustellen, daß mit dem validierten Konzept einer aktiven Kopfstütze eine durchgreifende Sicherheitsverbesserung erzielt werden kann. Das wahrgenommene industrielle Interesse an dieser innovativen Konzeptlösung gebietet eine schnelle weitere Vertiefung und Lösung der noch offenen Fragen und die unverzügliche Umsetzung zur allgemeinen Anhebung und Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr in diesem Unfall-Verletzungsgeschehen.

6. Literatur












































[1] Otte, D.et al.:
"Significance of Soft issue neck Injuries AIS 1 in the Accident Scene and Deformation Characteristics of Cars with Delta-V up to 10km/h"
IRCOBI Conference, Hannover, Germany, 1997
[2] Bigi, Dante et al.:
"A comparison Study of Active Head Restraints for Neck Protection in Rear-End Collisions”
TRW Occupant Restraints Systems, Alfdorf, Germany, 1998
[3] Krafft, Maria:
"Crash Pulse Recorders in Rear Impacts- Real Life Data”
Falksam Insurance Group, Sweden, 1998
[4] Meyer, Stefan et al.:
"Zur Belastung der Halswirbelsäule durch Auffahrunfälle...”
Zeitschrift Verkehrsunfall, Heft1, 1994
[5] Walz, Felix et al:
"Neck Anatomy, Injury Mechanismus, Seat Design Concepts”
Universität und Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich, 1998
[6] Bunkertorp, Olle:
"Impact Biomechanics, Incidence, Diagnosis, Treatment, Rehabilitation and Prognosis of Neck Injuries in Traffic Accidents”
University of Gothenburg, Sweden, 1998