Untersuchung der Entwicklung der sicherheitsrelevanten Leistungsfähigkeit mit dem Lebensalter


Kurzfassung


Aufbauend auf der Literatur zum Alter und besonders zur Leistung im Alter sollte ein Konzept zur Messung von solchen Leistungsaspekten entwickelt werden, die für die Sicherheit im Umgang mit der Technik - insbesondere beim Autofahren - von Bedeutung sind. Ein Ziel der daraus abgeleiteten Leistungsmessung von Erwachsenen im Alter von 18 bis 80 Jahren sollte die Darstellung der Leistungsentwicklung über die Lebensjahre sein, aus der wiederum Hinweise zur altersgerechten Technikgestaltung abgeleitet werden können.

Die Sichtung und Bewertung der einschlägigen Literatur zeigt jedoch, daß die Altersforschung sich noch weitgehend in der Phase grundsätzlicher Positionsbestimmungen und Definitionen befindet, von der Hinweise auf solch konkrete Problemstellungen wie den sicheren Umgang mit der Technik nicht zu erhalten sind. Insbesondere die in den letzten Jahren aufkeimende Forschung zum älteren Verkehrsteilnehmer und Autofahrer ist noch sehr von z.T. ideologischen Positionen bestimmt und bedarf in vielfacher Hinsicht der Vertiefung. Dabei sind die demographische Entwicklung und die zunehmende Technisierung des Alltags Grund genug, sich intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Es scheint ausgehend von den modernen Thesen der Altersforschung (die eine entschiedene Gegenposition zum Defizit- Modell vertritt, welches Alter als Lebensphase des Nicht-mehr-Könnens sieht) geradezu ein Tabu darzustellen, wenn man sich mit Leistungsveränderungen über die Lebensjahre befaßt, die zumeist auch Verschlechterungen sind. Manche Altersforscher vertreten die Auffassung, daß Querschnittsmessungen unzulässig seien, weil sie die unterschiedlichen sozio-kulturellen Bedingungen der verschiedenen Generationen vernachlässigen. Andere halten das Testen von älteren Menschen für unfair, weil ältere Menschen sich schwerer mit ungewohnten Anforderungen tun und z.B. unter Zeitdruck oder bei Informationsüberflutung rascher versagen als jüngere. Unsere Auffassung, die für diese Studie vorgehensleitend war, ist jedoch, daß alle Menschen, die aktiv in den Alltag eingebunden sind, mit von außen gesetzten Anforderungen konfrontiert werden, deren Intensität sie nicht immer beeinflussen können. In Kenntnis der menschlichen Fähigkeiten lassen sich andererseits "Anforderungen an die Anforderungen" definieren, die den Umgang mit der Technik erleichtern helfen.

Die Literatur gibt auch keine konkreten Hinweise, welche Leistungsaspekte für die Sicherheit beim mgang mit der Technik Voraussetzung sind und wie sie gemessen werden sollen. Wir haben daher auf igene Vorerfahrungen nach Diskussion mit Forschern und Testgeräteherstellern zurückgegriffen. Aus der langjährigen psychometrischen Testung von Erwachsenen im Alter von 18-60 Jahren im Rahmen von Studien zur Prüfung leistungsbeeinträchtigender Effekte von Medikamenten und aus Erfahrungen mit der individuellen Untersuchung und Beratung von Kraftfahrern mit Problemlagen (altersbedingter und/oder krankheitsbedingter Leistungsabfall) konnten Erfahrungen übertragen werden. Letztlich wurde wegen ihrer weitgehenden Standardisierung und damit auch wegen der Meß- Sensibilität für Leistungsunterschiede auf die Methode des computerunterstützten Testens zurückgegriffen und eine Testbatterie mit sieben Einzelverfahren eingesetzt. Methode und Verfahren stammen aus dem "Wiener Testsystem" (Hersteller: Dr. G. Schuhfried Ges. m. b. H., Mödling/Österreich). Diese untersuchten Leistungsaspekte waren:

  • Schnelligkeit und Präzision der Wahrnehmung,
  • Genauigkeit der Bewegungskoordination,
  • Reaktionsvermögen unter Leistungsdruck (Streß),
  • Konzentrationsvermögen bei langdauernder Anforderung,
  • Gedächtnis für bildlich dargebotene Informationen,
  • Aufmerksamkeit bei Zeitdruck,
  • Vigilanz (zugrundeliegende Reaktionsbereitschaft).

Diese Leistungen sind voneinander abgehoben und tragen in ihrer Gesamtheit zu einer erfolgreichen Bewältigung technischer Anforderungen bei. Die Testverfahren werden mit einfachen Aufgabenstellungen, die keinerlei Computerkenntnisse voraussetzen, an einem Computermonitor oder über spezielle Zusatzeinrichtungen geboten und über spezielle Bedieneinrichtungen (Knöpfe, Pedale, "Lichtgriffel" zur direkten Eingabe auf dem Monitor) bearbeitet.

Zur Beurteilung weiterer Merkmale der vorgesehenen Stichprobe wurde ein Fragebogen eingesetzt, der folgende Lebensbereiche ansprach: Allgemeine Angaben (Alter, Geschlecht, Größe, Gewicht), Lebenssituation, Mobilität, Bewegungsaktivitäten, Genußmittelgebrauch, Schlaf, Gesundheit, Gesamtbewertung eigener Lebensaspekte (Leistungsfähigkeit, Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit etc.). Außerdem wurde das Sehvermögen überprüft (Sehschärfe, Dämmerungssehfähigkeit).

Untersucht wurden 620 Personen im Alter von 18 bis 80 Jahren. Die Gruppen wurden pro Dekade so ausgewählt, daß alle Alter innerhalb dieser Bereiche und das Geschlecht weitgehend gleichmäßig vertreten waren. Die Alter von 70 bis 80 Jahren waren naturgemäß für eine solche Studie schwerer zu gewinnen. Hier mußten Zugeständnisse an das Prinzip, je 100 Personen pro Dekade einzubeziehen, gemacht werden.

Die Personen wurden über Zeitungsanzeigen in Tageszeitungen und einem Boulevardblatt geworben Teilnahmehonorar für ca. 3 Stunden Untersuchung: DM 100,00). Ausgehend von der Tatsache, daß nur auf der Basis von Freiwilligkeit operiert werden konnte, schien uns dies ein Weg, eine möglichst große Zahl Interessierter anzusprechen und damit eine gute Durchmischung sozialer Schichten in der Stichprobe zu erreichen (viele Personen kamen auch über Mundpropaganda früherer Teilnehmer zu uns). Die Teilnehmer waren im weiteren Sinne gesund, d.h. sie hatten keine gesundheitlichen Handicaps, die eine Teilnahme ausschlossen. Sie waren so mobil, daß sie von sich aus die Anreise zum TÜV Rheinland in Köln-Poll organisieren konnten. Sie lebten selbständig (keine Heimbewohner) und waren zum überwiegenden Teil aktive Kraftfahrer. Dies war jedoch keine Teilnahmebedingung. Insgesamt repräsentieren die Untersuchten den selbständigen "normalen" Erwachsenen, der auch mit der alltäglichen Technik konfrontiert ist.

Die Leistungstestergebnisse werden als die Gruppenleistung kennzeichnende Mittelwerte mit Angabe der 68%-Streuungsbereiche (+ eine Standardabweichung) dargestellt. Der Einfachheit halber wurden folgende Altersgruppen gebildet: 18-30, 31-40, 41-50, 51-60, 61-70, 71-80 Jahre.

Resultate: Bei allen betrachteten Leistungen waren mit dem Alter fortschreitende Verschlechterungen zu beobachten, und zwar vom ersten Orientierungspunkt aus gesehen (der Gruppe der 18-30 jährigen) beginnend bereits bei der Gruppe von 31-40 Jahren, teils aber auch erst ab 41 Jahren. Bei manchen Leistungen vollzogen sich die deutlichsten Verschlechterungen im Alter von 40 bis 60 Jahren (Wahrnehmungspräzision), bei anderen ab 60 Jahren (Vigilanz) ober ab 71 Jahren Bewegungskoordination, Reaktionsvermögen). Bei anderen Leistungen war eine eher kontinuierliche Verschlechterung über den gesamten Altersbereich zu erkennen (Gedächtnis, Aufmerksamkeit). Mit diesem Resultat wird dem möglichen Vorurteil der Boden entzogen, daß sich Leistungsverschlechterungen erst im höheren Alter (z.B. ab 65 oder 70 Jahren) entwickeln. Leistungen verändern sich offensichtlich lebenslang.

Der gesamte Veränderungsbereich (z.B. Zunahme der Fehler) ist durchweg beachtlich und beträgt nicht selten um oder über 100 %, ausgehend vom Wert der jüngsten Altersgruppe. (Wahrscheinlich verkraften die technischen Systeme eine gewisse Bandbreite von Leistungsunterschieden, so daß man erst im höheren Alter an Grenzen stößt, dann auffällig wird und zu den o.g. Vorurteilen Anlaß gibt).

Zumeist wird mit zunehmendem Alter ein Anstieg der Variation deutlich, d.h. die Extremwerte der Gruppenleistungen rücken mit zunehmendem Alter weiter auseinander. Dieser Prozeß beginnt teils schon früh (31-40 Jahre, Bewegungskoordination), teils ganz spät (71-80 Jahre, Reaktion), er ist auch bei manchen Leistungen gering ausgeprägt (Wahrnehmung) oder schwankend (Vigilanz). Möglicherweise bedingt durch die Selbstselektion der Stichprobe (nur freiwillige, unternehmungslustige Teilnehmer, keine Heimbewohner oder Kranke unter den alten Personen) stellt sich der bisher in der Literatur häufig angesprochene Anstieg der Variation in den höheren Lebensjahren [z.B. 33] aber nicht so gravierend dar wie die Änderung der Leistungsmittelwerte.

Bei starkem Zeitdruck war im höheren Alter eine Tendenz zu Ausweichstrategien (Raten) oder zum Auslassen erkennbar. Zeitdruck ist demnach für diese Personen überfordernd und fehlerbegünstigend.

Aus der Befragung ergibt sich grundsätzlich der Eindruck, daß die Befragten ein realistisches und plausibles Abbild der Bevölkerung sind. Das betrifft die Lebenssituation, die jährliche Fahrleistung mit dem Kraftfahrzeug, die alters- und/oder geschlechtsrollen-spezifische Nutzung anderer Verkehrsmittel, die Sport- und Bewegungsaktivitäten und den Genußmittelgebrauch. Bemerkenswert ist auch, daß gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Erkrankungen in einem deutlichen Ausmaß praktisch alle Altersgruppen betreffen (Allergien überwiegend bei jungen Menschen). Gleiches gilt für die Medikamenteneinnahme.

In der Selbsteinschätzung von Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden gibt es eine leichte Tendenz zu positiveren Bewertungen bei jüngeren Befragten gegenüber älteren, bei der Lebenszufriedenheit geben Frauen aus den mittleren Altersbereichen etwas günstigere Noten als die Männer dieser Gruppen.

Ein bekanntes, auch hier erkennbares Phänomen war, daß die Sehfähigkeit insbesondere bei Dunkelheit mit dem Alter rapide nachließ.

Zur inhaltlichen Verknüpfung von Testleistung und Befragungsergebnissen wurde ein Gesamt- Testwert gebildet, in den alle Einzelleistungen eingingen. Nach diesem Wert wurden dann aus jeder Altersgruppe die jeweils 15% Besten und Schlechtesten bestimmt (15%-Quantil, 85%-Quantil). Ein Vergleich der mittleren Lebensalter dieser Gruppen zeigte allerdings keine eindeutige Tendenz derart, daß die Schlechtesten auch immer die Älteren einer Altersgruppe waren. Auch bei den Befragungsdaten selbst ist keine klare und durchgängige Beziehung zur Testleistung erkennbar, ausgenommen bei der Gruppe der 71-80 jährigen. In dieser Altersgruppe ließ sich auch ein statistisch abzusichernder Unterschied ermitteln zwischen den Befragungsangaben derjenigen mit guten und mit schlechten Testleistungen. Der Unterschied wird im wesentlichen gespeist aus den Angaben zu Erkrankungen, Schlaf, Ausmaß der Aktivitäten, Wohlbefinden und Selbsteinschätzung der Leistungsfähigkeit. Eine Erklärung für das Auffälligwerden dieser Altersgruppe kann sein, daß bei Jüngeren noch ausreichende Kompensationsreserven bestehen, um gesundheitliche Störungen leistungsmäßig zu überspielen. Über diese Reserven verfügen die über 70 jährigen nicht mehr in hinreichendem Maße. Ein Verlust an Vitalität und Gesundheit wird hier ganzheitlich erlebt und bewertet und wirkt sich umfassend aus.

Dieses Einzelergebnis hat für das Thema dieser Arbeit deshalb besonders Gewicht, weil es eine Altersgruppe betrifft, die demographisch an Bedeutung gewonnen hat und die für die Technikgestaltung noch zu entdecken ist. Das Leistungsvermögen dieser Gruppe scheint labiler zu sein, stärker von gesundheitlichen Rahmenbedingungen abzuhängen als das Jüngerer, ist andererseits aber auch über eine aktive Gesundheitsvorsorge positiv zu beeinflussen.